GEISTIGKEITEN (GUNAS)

Mit den „Geistigkeiten“ sind hier die drei „Erscheinungsweisen der materiellen Natur“ gemeint – im Sanskrit auch Gunas genannt. Sie sind neben der Zeit (Kala) die Haupttriebkräfte für das Entstehen und den ständigen Wandel aller materiellen Erscheinungen (Dinge und Prozesse) um uns herum und in uns selber. Diese drei Gunas finden wir immer und überall, so lange das Universum in seiner materiellen Form existiert, d.h. in der freien Natur, in uns Menschen selber, in der Gesellschaft u.a.m.. Befassen wir uns nun mit ihnen etwas genauer:

(1) Die Unbewusstheit (Tamas) steht für Ignoranz, Trägheit und Schlaf: Man nimmt nicht wirklich etwas wahr, man kann nichts erkennen und begreifen und man will es aber auch nicht. In dieser Phase ist auch kein wirkliches Wissen abrufbar bzw. vorhanden. Die Unbewusstheit ist die Hauptursache dafür, dass sich die Menschen (aus Unverständnis) mit ihrem Körper identifizieren, obgleich sie selber der Körper nicht sind, sondern diesen nur haben. Tamas wird durch den Halbgott Shiva repräsentiert.

(2) Die Leidenschaft (Rajas) ist die Triebkraft, die uns umgebende Materie zu erforschen, auf sie Einfluss zu nehmen, zu verändern, umzugestalten und beherrschen zu wollen. Die Leidenschaft wird über die jeweils fünf Wahrnehmungs- und Handlungssinne ausgelebt (Hören, Riechen, Sehen, Schmecken und Tasten; Sprechen, Bearbeiten, Fortbewegen, Ausscheiden und Fortpflanzen). In dieser Phase versucht der Mensch, über Erfahrungen die materielle Welt zu erkennen, zu begreifen und sich möglichst selbst zu verwirklichen, und er identifiziert sich weiterhin mit dem eigenen Körper. Rajas wird durch den Halbgott Brahma repräsentiert.

(3) Die Bewusstheit bzw. Tugend (Sattva) ist die Phase, in der sich die Wahrnehmungs- und Handlungssinne in Bezug auf die jeweiligen Sinnesobjekte hinreichend ausgelebt haben. Mit anderen Worten wurden die Sinne mit Erfahrungen ausreichend befriedigt bzw. gesättigt, so dass diesbezüglich kein Bedarf mehr besteht – man weiß um die jeweiligen Dinge sozusagen Bescheid und verliert das weitere Interesse daran. Darüber hinaus hat sich zuweilen schon die Erkenntnis entwickelt, selber nicht der eigene Körper zu sein, sondern die in ihm residierende Seele. Sattva wird durch Vishnu, der kein Halbgott, sondern Gott (Krishna) selber ist, repräsentiert.

Die Erscheinungsweisen der materiellen Natur bzw. Gunas findet man ausschließlich auf der materiellen Daseinsebene, wohingegen auf der spirituellen Ebene alles in Einem verschmolzen ist – dort gibt es nur noch ein höheres Sattva. Die Erscheinungsweisen werden u.a. im 11. Canto des Srimad Bhagavatam, Kapitel 25 noch genauer beschrieben. Ohne ihre einheitliche Existenz bzw. Dreiheit, die jedoch immer von einer Auseinandersetzung bzw. Verdrängung und Ablösung untereinander gekennzeichnet ist, wäre ein kosmisches und auch irdisches Leben überhaupt nicht möglich; in der Philosophie (Dialektik) spricht man auch von der Einheit und dem Kampf der Gegensätze. Das Wechselspiel der drei Gunas ist ansonsten leicht zu verstehen: Aus der Unbewusstheit, dem Schlaf bzw. der Ruhe heraus erwächst irgendwann einmal das Bedürfnis, sich auf einem bestimmten Gebiet mit einer gewissen Leidenschaft schöpferisch zu betätigen. Ist die Schöpfung endgültig erschaffen worden bzw. manifestiert, so wird sie für eine gewisse Zeit tugendhaft zu erhalten versucht. Zunächst schleichend, dann aber unübersehbar und letztlich eventuell mit Gewalt wird die Schöpfung schlussendlich wieder vernichtet …

Dieser Kreislauf des Werdens, Erhaltens und Vergehens ist immer sowohl mit glücklichen, als auch mit leidvollen Erlebnissen aller Art verbunden, und diesen Kreislauf zu durchbrechen, erfordert zunächst, sich ihn überhaupt erst einmal zu vergegenwärtigen und ihn auch als Natur-immanent zu verstehen. Das ist ein anspruchsvoller geistiger Prozess, bei dem das eigene Ego (materiell bedingte Selbstbildnis) immer mitzumischen versucht, denn es fühlt sich immer zu Materie, aus der es selber hervorging, hingezogen und will seine scheinbare Macht, die Materie tatsächlich beherrschen zu können, nicht aufgeben. Die Krux daran aber ist, dass die drei „Erscheinungsweisen der materiellen Natur“ unter dem höheren Einfluss der ständig treibenden Zeit (Kala) stehen, d.h. der gesamte Prozess des Werdens, Erhaltens und Vergehens lässt sich niemals aufhalten. Die Lösung, sich von diesem Prozess abzukoppeln, besteht dann in der Entwicklung des Verständnisses, dass auf der einen Seite die sich ständig verändernde Materie steht und auf der anderen Seite das unveränderliche spirituelle Lebewesen:

„Die drei Arten der materiellen Erscheinungsweisen (Tugend, Leidenschaft und Un­wissenheit) beeinflussen das Lebewesen, aber nicht Mich (Gott). Sie manifestieren sich in seinem Geist und verleiten das Lebewesen dazu, sich an materielle Körper und andere geschaffene Objekte zu binden. Auf diese Weise ist das Lebewesen gefesselt.“ (Srimad Bhagavatam, 11. Canto, Vers 25.12)

Sich mit den Gunas tiefgründiger auseinanderzusetzen, ist auch Gegenstand der Psychologie im AYURVEDA, denn das Weltbild, das die Patienten in sich tragen, bestimmt nicht unerheblich, wie sie selber mit ihren eigenen Lebensumständen umzugehen verstehen. Mit anderen Worten haben dieses Weltbild bzw. die in den betreffenden Personen wirkenden Gunas einen nicht unerheblichen Einfluss auf das Entstehen von Erkrankungen und den Verlauf sowie Erfolg des Genesungsprozesses. Der AYURVEDA-Arzt Dr.Hans Heinrich Rhyner hat die Gunas einmal in folgender Form klassifiziert:

https://veda.listemann.de/Downloads/Gunas-Sattva-nach-DrRhyner.png

Quelle: Das neue Ayurveda Praxis Handbuch von Dr. Hans Heinrich Rhyner